Staat trägt Mitverantwortung an Gewaltsituationen!

Nachdem der Bund am 18. Juni seinen Bericht zur Umsetzung der Istanbul-Konvention (IK) in der Schweiz veröffentlicht hat, zeigen heute die Fachstellen und NGOs ihre Sicht in einem eigenen Bericht der Zivilgesellschaft zuhanden des Europarats auf.

Täglich zeigt sich in ihrer Arbeit, dass es weiterhin am politischen Willen und ausreichend finanziellen Mitteln für die nötigen Massnahmen gegen Gewalt und zugunsten der Betroffenen fehlt. Damit trägt der Schweizer Staat eine Mitverantwortung an den Gewaltsituationen!

Im Netzwerk Istanbul Konvention arbeiten über 90 Fachstellen und -Beratungsstellen, Schutzunterkünfte und NGOs aus den Bereichen Gewalt, Behinderung, LGBTIQA+, Alter, Kinder, Migration/Asyl und Menschenrechte, die im Netzwerk Istanbul Konvention zusammen. Ihnen zeigt sich tagtäglich in ihrer Arbeit gegen Gewalt sowie mit Gewaltbetroffenen und Tatpersonen, dass es an allen Ecken und Enden fehlt: an rechtlichen und praktischen Massnahmen für einen echten Opferschutz zugunsten aller Gewaltbetroffenen, nachhaltiger Prävention und gerechter Strafverfolgung. «Um die Istanbul Konvention konsequent umzusetzen, braucht es viel mehr Massnahmen. Die Schweiz muss endlich handeln», resümiert Anna-Béatrice Schmaltz Mitkoordinatorin des Netzwerk Istanbul Konvention (und Projektleiterin Gewaltprävention der feministischen Friedensorganisation cfd). 

In der Medienmitteilung vom 18. Juni hat das Netzwerk bereits massiv mehr Geld, mehr gesamtschweizerisch einheitliche Regelungen und überkantonalen Schutz gefordert. Heute streicht das Netzwerk heraus, wie sich der Schweizer Staat einer Mitverantwortung schuldig macht, wenn Gewaltsituationen aufgrund von fehlenden Massnahmen und Ressourcen andauern oder neu initialisiert werden. 

Anmerkung: Unten steht eine Liste mit Zitaten diverser Mitglieder des Netzwerks zur Verfügung. 

Staatliches Sparen führt zu Diskriminierung von Gewaltopfern 

Die aktuellen Massnahmen gegen Gewalt und Angebote für Betroffene in der Schweiz sind nicht auf die Bedürfnisse von allen Opfern ausgerichtet und für bestimmte Opfer auch nicht zugänglich. So bspw. für Menschen mit Behinderungen, Migrantinnen, LGBTIQA+-Menschen und alte Menschen. Dies führt zu Diskriminierungen und einer faktischen Duldung von Gewalt durch den Schweizer Staat. So muss Angie Hagmann, Geschäftsleiterin von avanti donne – Interessenvertretung Frauen mit Behinderung festhalten: «Viele Frauen und Mädchen mit Behinderungen haben aufgrund ihrer Lebensumstände ein überproportional hohes Risiko, Gewalt zu erleben. Barrieren beim Gewaltschutz und bei der Opferhilfe erhöhen dieses Risiko zusätzlich.» Die Fachstellen und NGOs fordern deshalb eine inklusive und diskriminierungsfreie Umsetzung der Konvention, wozu die Schweiz gemäss Art. 4 IK auch verpflichtet ist. «Aktuell spart die Schweiz beim Gewaltschutz auf dem Buckel bestimmter Opfer. Diese Diskriminierung ist ein Skandal und gefährdet Leben!», sagt Simone Eggler, Mitkoordinatorin des Netzwerk Istanbul Konvention (und Verantwortliche Politik bei Brava – ehemals TERRE DES FEMMES Schweiz). 

Schweiz stützt Gewaltehen statt Opfer zu schützen 

Die Schweiz hält weiterhin an ihrem Vorbehalt zu Art. 59 IK fest und weigert sich, allen Opfern von Gewalt in der Ehe Schutz zu bieten. So riskieren Opfer, die sich aus einer Gewaltehe befreien wollen, dass sie (und ihre Kinder), die Schweiz verlassen müssen. Deshalb sind sie faktisch durch den Staat gezwungen, in der Ehe auszuharren. «Das Gesetz diskriminiert die Opfer je nach Status des Ehepartners, was den Zielen der Istanbul-Konvention zu widersprechen scheint. Die Schweiz muss ihren Vorbehalt zu Artikel 59 der Istanbul-Konvention aufheben und den Schutz aller Opfer Häuslicher Gewalt sicherstellen.» sagt Chloé Maire vom Centre Social Protestant Vaud, das Migrant_innen begleitet. 

Digitale Gewalt tötet 

Digitale (geschlechtsspezifische) Gewalt ist ein reales und weitverbreitetes Problem, das bisher von der Schweiz nicht ernst genommen wird. «Digitale Gewalt ist Gewalt. Auch ohne blaue Flecken und Knochenbrüche kann Digitale Gewalt töten. Dies muss im Strafgesetz verankert werden und die Unterstützung der Betroffenen staatlich finanziert werden.», sagt Jolanda Spiess-Hegglin, Geschäftsleiterin von #NetzCourage, der einzigen Beratungsstelle für Betroffene von Digitaler Gewalt. An griffigen Gesetzen sowie nachhaltig und vollständig finanzierten Unterstützungs- und Präventionsangebot fehlt es bisher jedoch. 

Das Netzwerk Istanbul Konvention fordert die Schweiz deshalb auf, die IK konsequent, inklusiv und diskriminierungsfrei umzusetzen und somit allen Opfern von Gewalt gerecht zu werden. 

Weitere Aussagen von Vertreter_innen diverser Fachstellen und NGOs zeigen Probleme auf: 

«Fast alle trans Menschen erleben Gewalt. Die Istanbul-Konvention will uns schützen - die Schweiz muss uns endlich schützen!» Alecs Recher, Transgender Network Switzerland 

«Facharbeit mit gewaltausübenden Personen ist ein wesentlicher Pfeiler des Opferschutzes.» Anne Le Penven, Fachverband Gewaltberatung Schweiz 

«Wer sich als lesbisch, bisexuell oder queer identifiziert, erlebt nicht nur Gewalt aufgrund des Geschlechts, sondern auch aufgrund der sexuellen und romantischen Orientierung. Diese mehrfache Diskriminierung verschärft sich in bestimmten Bereichen, wie z.B. im Gesundheitssektor oder bei der Sicherheit im öffentlichen und privaten Raum.» Muriel Waeger, LOS – Lesbenorganisation Schweiz 

«Der Kampf gegen Gewalt erfordert auch eine bessere Medienberichterstattung und weniger Geschlechterstereotypisierung in den Medien. Es ist wichtig, dass Journalisten für diese Themen sensibilisiert werden.» Valérie Vuille, DécadréE 

«Der Staat muss aktiv gegen alle Formen der Diskriminierung inklusive Racial Profiling innerhalb von Institutionen, Strukturen und all seinen Organen vorgehen, insbesondere bei denen mit Gewaltmonopol wie der Polizei.» Izabel Barros, cfd - Die feministische Friedensorganisation 

«Keine Verstümmelungen von intergeschlechtlichen Kindern. Keine geschlechtsverändernden Eingriffe an Kindern.» Mirjam Werlen, InterAction Schweiz 

«Für ein Alter ohne Gewalt fordert die UBA: Das Tabu brechen, Misshandlung verhüten und unterstützende Organisationen durch öffentliche Mittel stärken!» Ruth Mettler, Unabhängige Beschwerdestelle für das Alter UBA / Alter ohne Gewalt 

«Erziehung ist Privatsache, Gewalt gegen Kinder nicht.» Regula Bernhard Hug, Kinderschutz Schweiz 

«Entgegen der Verpflichtungen der IK stellt die Schweiz asyl- und migrationsrechtliche Belange meist vor eine adäquate Unterstützung gewaltbetroffener geflüchteter Frauen. Und auch vor den Schutz vor erneuter Gewalt.» Georgiana Ursprung, Brava – ehem. TERRE DES FEMMES Schweiz 

«Wenn die Prävention von weiblicher Genitalbeschneidung und die Versorgung betroffener Mädchen und Frauen effektiv sein soll, braucht es eine längerfristige Finanzierung – die Kantone sind aufgefordert, entsprechende Angebote bereit zu stellen». Simone Giger, Netzwerk gegen Mädchenbeschneidung Schweiz 

«Für eine faire Rechtsprechung ist ein «Ja heisst Ja» im Sexualstrafrecht die Grundvoraussetzung!» Bettina Steinbach, Frauenberatung Sexuelle Gewalt Zürich 

«Mädchen und junge Frauen erleben in allen Landesteilen Gewalt im Elternhaus. Daher braucht es für die Opfer in allen Regionen Mädchenhäuser!» Dorothea Hollender, Mädchenhaus Zürich 

«Wenn wir Häusliche Gewalt verhindern wollen, muss der Staat endlich seine Verantwortung übernehmen und für die ausreichende Finanzierung der Frauenhäuser in allen Regionen der Schweiz aufkommen.» Lena John, Dachorganisation Frauenhäuser 

«Jeden Tag sind auch in der Schweiz unzählige Frauen von Gewalt, Zwang oder Grenzüberschreitungen während der Schwangerschaft, Geburt oder im Wochenbett betroffen. Dies mit oft schwerwiegenden Folgen für die ganze Familie. Das muss sich dringend ändern und dafür setzen wir uns ein.» Monika Di Benedetto, Präsidentin Roses Revolution 

«Tatsächliche Geschlechtergleichstellung ist essenziell für den Abbau von geschlechtsbasierter Gewalt.» Regula Kolar, Geschäftsleiterin NGO-Koordination post Beijing Schweiz