Können Väter schlechter trösten als Mütter? Nein!
Der Bindungstheorie zufolge binden sich Kinder an Menschen, welche sich längerfristig und verlässlich um ihre Grundbedürfnisse kümmern. Dabei sollen die Signale des Kindes wahrgenommen, richtig interpretiert und prompt und angemessen auf diese reagiert werden. Um das tun zu können, müssen die Bezugspersonen das Kind sehr gut kennen. Das braucht Zeit. Je mehr Zeit zur Verfügung steht, umso besser kann das Kind kennengelernt werden. Umgekehrt gilt das auch: Das Kind braucht Zeit, um sich mit dem Verhalten der Bezugspersonen vertraut zu machen. Diese Zeit haben Väter in der Schweiz oft nicht.
Seit 2021 haben Väter einen zweiwöchigen Vaterschaftsurlaub zugute. In diesen Wochen haben sie Zeit, ihr Kind und seine Signale kennenzulernen. Sie lernen, wann es müde oder hungrig ist und wann es in Kontakt sein möchte. Dieser Zeitraum ist sehr kurz und danach wird die Zeit das Kind kennenzulernen begrenzter. Das Kind wächst und macht schnell weitere Entwicklungsschritte.
Gemäss Bundesamt für Statistik setzen Männer am meisten Zeit für bezahlte Arbeit ein, Frauen hingegen für Haus- und Familienarbeit. Das heisst auch: Mütter verbringen mehr Zeit mit den Kindern und können sie auch dementsprechend besser kennenlernen. Da ist es nicht verwunderlich, dass meistens die Mutter die erste Bezugsperson ist, bei welcher das Kind Trost sucht. Der Vater hat – aufgrund der Arbeitsstrukturen (z.B. weniger Teilzeitarbeit möglich) – viel weniger Gelegenheiten, Zeit mit dem Kind zu verbringen, es mit seinen Bedürfnissen kennenzulernen und wird deshalb auch mehr Schwierigkeiten haben, das Kind zu trösten. Dies würde ganz anders aussehen, wenn Väter auch als Hauptbezugsperson für das Kind verfügbar sein könnten.
Väter trösten nicht schlechter, sondern anders als Mütter. Das Kind hat sich an das Tröst-Muster der Mutter gewöhnt. Es muss erst durch wiederholte Erfahrungen lernen, dass der Vater ein anderes Tröst-Muster hat als die Mutter und dass es trotzdem zuverlässig getröstet wird («Wie tröstet Papa mich?»). Gleichzeitig muss dem Vater die Gelegenheit gegeben werden, herauszufinden, was sein Kind braucht («Was möchte mir mein Kind sagen?»). Es sind also wechselseitige Lernprozesse und die brauchen Zeit. Es ist somit nicht das biologische Geschlecht ausschlaggebend, sondern die Menge und die Qualität der gemeinsam verbrachten Zeit.
Was braucht ein Kind von seinem Vater (und seiner Mutter)?
Väter gehen mit ihren Kindern anders um als Mütter. Das ist gut so. Das Kind wird lernen, dass es bei den einen Themen lieber zur Mutter geht, bei anderen Themen lieber zum Vater. Diese vielfältigen Erfahrungen mit unterschiedlichen Bezugspersonen prägen das Kind auf seinem Lebensweg.
Die Annahme, dass kleine Kinder nur eine innige emotionale Beziehung zu einer Person aufbauen können und dass dies in den meisten Fällen die Mutter ist, ist tief verwurzelt. Aus der Bindungsforschung stehen uns heute jedoch neue und vielfach bestätigte Erkenntnisse zur Verfügung. So gelten Väter heute als wichtige Bindungspersonen für die kindliche Entwicklung. Gerade auch deshalb, weil sie sich in ihrer Feinfühligkeit von den Müttern unterscheiden. So weiss man beispielsweise, dass Väter oft das Erkundungsverhalten der Kinder stark fördern und dadurch bei der Entwicklung von körperlichen Fähigkeiten und Selbstvertrauen eine wichtige Rolle spielen.
Kinder brauchen also verschiedene Bezugspersonen, die zuverlässig sind und sie in ihren Gefühlen begleiten. Sie lernen dabei, dass sie mit heftigen Emotionen nicht alleine gelassen werden. Das Kind soll wissen: «Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst. Ich kann dich trösten und auf deine Gefühle eingehen. Ich werde dich nicht strafen, wenn du etwas machst, das mir vielleicht nicht passt, sondern ich bin froh, dass du dich mir anvertraust.» Das begünstigt eine sichere Bindung des Kindes zur Bezugsperson.