Sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen im familiären Umfeld
Einleitung
Sexualisierte Gewalt an Kindern innerhalb einer Familie oder im familiären Umfeld[1] nimmt oft besonders schwere Formen an. Die betroffenen Kinder erleiden die Gewalt meist über mehrere Jahre hinweg. Sie erleben verschiedene Formen der sexualisierten Gewalt: übergriffige sexualisierte Sprache, Exhibitionismus, sexualisierte Gewalt mit Körperkontakt, die oftmals bis hin zu einer Penetration geht. Die Tatpersonen benutzen diverse Strategien, um die Betroffenen zum Schweigen zu bringen: Geschenke und Zuwendungen, schleichende Normalisierung der sexualisierten Gewalt, manipulative psychische Gewalt bis hin zu offener Drohung mit- und/oder der Anwendung von massiver psychischer und physischer Gewalt. Die Tatpersonen sind damit erfolgreich – nur jedes zweite betroffene Kind legt die Tat vor dem Erwachsenenalter überhaupt offen. Bei jenen, die etwas sagen, vergehen zuerst oft Jahre. Die Anzeige- und Verurteilungsraten dieser Taten sind nochmals um ein Vielfaches geringer. Gerade besonders schwere Gewalt scheint bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen derart starke und anhaltende Ängste vor den Tatpersonen bzw. Loyalitätskonflikte hervorzurufen, dass diese Fälle nicht offengelegt werden. Bis von aussen in die Familien eingegriffen wird, müssen betroffene Kinder und Jugendliche oft lange leiden. Zu wenige der betroffenen Kinder und Jugendlichen, die eine Therapie bräuchten, erhalten eine. Viele Kinder und Jugendliche sind zudem noch in einer anderen Weise von den Taten betroffen, weil die ihnen angetane Gewalt auf Bildern und Videos festgehalten und im Internet weiterverbreitet wird. Studien legen nahe, dass bei etwa der Hälfte aller Abbildungen von Kindsmissbrauch Tatpersonen aus dem engen Familienkreis involviert sind. Insgesamt sind Mädchen und weibliche Jugendliche auch innerhalb der Familie stärker von sexualisierter Gewalt betroffen als Jungen. Bei Jungen dürfte die Dunkelziffer hingegen noch grösser sein, da sie die erlebte Gewalt noch weniger offenlegen. Die Gewalt kommt – wie dies auch bei anderen Gewaltformen der Fall ist – in allen sozialen Schichten, Milieus und Kulturen vor. Je nach kulturellem, religiösem oder auch sprachlichem Hintergrund sind einige Familien für eine Sensibilisierung schwieriger zu erreichen als andere.
Das vorliegende Positionspapier zeigt auf, was angesichts des so facettenreichen wie schwerwiegenden Problems der sexualisierten Gewalt an Kindern und Jugendlichen im familiären Umfeld zu tun ist.
Auf einen Blick: Was es braucht
- Die Enttabuisierung sexualisierter Gewalt im familiären Umfeld ist dringend notwendig! Sie ermöglicht Prävention, Aufdeckung und Aufarbeitung. Es braucht mehr Wissen und Sensibilisierung darüber, dass sexualisierte Gewalt an Kindern auch im eigenen sozialen Umfeld geschehen kann.
- Es braucht aktuelle Zahlen! Um genauere Kenntnisse des Ausmasses und der wirksamsten Massnahmen zu erlangen, braucht es wissenschaftliche Befragungen, Statistiken und auf die Schweiz bezogene Forschung insgesamt.
- Sicheres Körpergefühl und Sexualerziehung in jeder Entwicklungsphase. Es hilft Kindern, wenn sie bereits früh über ihre Gefühle sprechen können, die eigenen Grenzen kennen, einordnen können, was passiert, und eine Sprache dafür haben.
- Erwachsene, die Kindern als Vertrauenspersonen bei der Offenlegung Glauben schenken, sie fürsorglich begleiten und richtig unterstützen. Dies auch dann, wenn man nicht nur Bezugsperson des betroffenen Kindes ist, sondern gleichzeitig auch Partner:in oder Verwandte:r der Tatperson.
- Sensibilisierung, verstärkte Aus- und Weiterbildung sowie Unterstützung von Fachkräften aus dem Gesundheits-, Betreuungs- und Bildungsbereich, die früh mit betroffenen Kindern in Kontakt kommen und teilweise auch Einblick erhalten in Familiensysteme, die sonst gegen aussen sehr verschlossen sind. Besonders während der frühen Kindheit sollte der Kontakt zwischen Fachpersonen und Familien intensiviert und verbindlicher gestaltet werden.
- Für Betroffene, für Eltern und Bezugspersonen sowie auch für Fachleute, die mit und für Kinder arbeiten, braucht es mehr Hilfsangebote sowie mehr Informations- und Beratungsstellen.
- Es braucht einen Ausbau der Therapieangebote für Betroffene. Weiter braucht es mehr Beratungs- und Präventionsangebote für pädophil Veranlagte, für Kinder und Jugendliche, die sexuelle Gewalt ausüben, und für Personen, die merken, dass sie im Begriff sind, sexualisierte Gewalt an Kindern zu begehen. Auf institutioneller Ebene braucht es eine stärkere Vernetzung und Koordination der Hilfs- und Beratungsangebote sowie zwischen den verschiedenen vom Phänomen sexualisierte Gewalt betroffenen Fachkreisen.
- Nur wenige Fälle werden angezeigt, weil dies durch die enge familiäre Beziehung zwischen Tatperson und Kind besonders schwierig ist. Es braucht bessere Unterstützung bei der Anzeige, dazu im Strafprozess eine möglichst enge und umfassende Begleitung der Kinder durch Fachpersonen der Opferhilfe. Es braucht zudem eine hohe Qualität in der (polizeilichen) Befragung von Kindern.
[1] Unter Familie verstehen wir die Kernfamilie mit Eltern/Stiefeltern/Pflegeeltern und deren Kinder (inklusive Adoptiv-, Stief- und Pflegekindern) sowie (aus Kindersicht) Geschwister/Stiefgeschwister. Zum familiären Umfeld gehören Grosseltern und nahe Verwandte sowie weitere eng mit der Familie befreundete Personen.
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Positionspapier Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im familiären UmfeldPDF 0.4 MB