Änderung des Zivilgesetzbuches (Gewaltfreie Erziehung)
Im Herbst 2023 lief die sechste Welle unserer nationalen Sensibilisierungskampagne «Es gibt immer eine Alternative zur Gewalt». Die Kampagne hat ihr Fundament in den breit rezipierten wissenschaftlichen Studien der Universität Freiburg zum Bestrafungsverhalten der Eltern in der Schweiz, die in unserem Auftrag durchgeführt werden.
Kinderschutz Schweiz thematisiert die Erziehung ohne Gewalt an Elternkursen und unterstützt Erziehende und Fachpersonen mit diversen Materialien. Die Erfahrungswerte aus dieser Kombination von wissenschaftlichen Grundlagen und Praxis fliessen in die vorliegende Antwort ein. Zudem hat am 31. Oktober 2023 Kinderschutz Schweiz eine nationale Fachtagung zur rechtlichen Verankerung der gewaltfreien Erziehung und deren Auswirkungen auf die Prävention durchgeführt. Erkenntnisse aus der Diskussion mit rund 180 Fachpersonen aus der ganzen Schweiz fliessen in die vorliegende Stellungnahme ein.
Allgemeine Würdigung
Kinderschutz Schweiz begrüsst den Vorentwurf zur Aufnahme der gewaltfreien Erziehung ins ZGB ausdrücklich. Studien zeigen, dass körperliche und psychische Gewalt an Kindern in der Schweiz weiterhin Teil des Alltags ist. Fast 50% aller Kinder in der Schweiz erleben zu Hause zumindest selten körperliche und/oder psychische Gewalt.1 Es ist wissenschaftlich belegt, dass Gewalt in der Erziehung nur negative und zum Teil langanhaltende Folgen für die betroffenen Kinder hat.2 Studienergebnisse unterstreichen die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung: Zwar werden Körperstrafen von Sorgeberechtigten in der Schweiz zunehmend als nicht gesetzeskonform betrachtet, doch hält beispielsweise noch immer rund ein Viertel der Eltern Schläge auf den Hintern für erlaubt.3 Wer Formen der Gewalt jedoch als verboten ansieht, wendet diese auch weniger an.4 Zudem denken zwei Drittel der Eltern, die gesetzliche Verankerung des Rechts auf gewaltfreie Erziehung würde die gesellschaftliche Bereitschaft zur gewaltfreien Erziehung fördern.5 In der Tat zeigen Erfahrungen aus anderen europäischen Ländern, dass die Kombination einer gesetzlichen Verankerung der gewaltfreien Erziehung und entsprechenden Sensibilisierungs- und Präventionsmassnahmen zu einer Verringerung der Gewalt gegen Kinder führen.
Der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes empfahl der Schweiz im Herbst 2021 im Rahmen des Staatenberichtsverfahrens zur Umsetzung der Kinderrechtkonvention zum wiederholten Mal in klaren Worten, jegliche körperliche Gewalt an Kindern in der Erziehung zu verbieten.6 Mit der vorgeschlagenen Ergänzung von Art. 302 ZGB kommt die Schweiz dieser Empfehlung nach, wenn auch nicht mit dem empfohlenen umfassenden Verbot. Die Aufnahme der gewaltfreien Erziehung ins ZGB ist ein starkes und deutliches Zeichen an die Erziehenden. Es stärkt die Präventionsarbeit und nimmt Fachpersonen vermehrt in die Verantwortung, Erziehungsberechtigte bei vermuteter Gewalt anzusprechen. Der Artikel kann Beratungsgespräche erleichtern, da er ein allgemeingültiges, eindeutiges Stoppsignal darstellt.
Wie der Bundesrat im erläuternden Bericht selbst mehrmals betont, braucht es zusammen mit der Verankerung des Rechts auf gewaltfreie Erziehung Sensibilisierungskampagnen, die Eltern auf jenes Recht des Kindes aufmerksam machen und gewaltfreie Formen der Erziehung aufzeigen. Solche Kampagnen sollten staatlich finanziert sein. Kinderschutz Schweiz erachtet es als nicht zielführend, wenn die alleinige Verantwortung zur Durchführung solcher Massnahmen bei den Kantonen liegen würde. Es gilt, mit Kampagnen auf nationaler Ebene Kinder und Eltern schweizweit in gleichem Masse zu erreichen. Von der präventiven Wirkung sollen alle Kinder unabhängig vom Wohnort gleich profitieren können. Es braucht also zumindest eine Koordination der Sensibilisierung auf Bundesebene. Dazu sollen die Kantone Eltern und Kinder aktiv auf Beratungs- und Unterstützungsangebote hinweisen, welche sie in Anspruch nehmen können.
Mehrheitlich reagieren Sorgeberechtigte aus einer Überforderung heraus mit Gewalt in der Erziehung. Fachlich kompetente und niederschwellig zugängliche Beratungsstellen und Entlastungsangebote leisten einen wichtigen Beitrag bei der Unterstützung von Eltern und helfen dadurch, Gewalt in der Erziehung zu verhindern. Auch der Elternbildung kommt eine grosse Bedeutung zu. Für Kindesschutz Schweiz sind deshalb sowohl die Ergänzung in Abs. 1 sowie der neue Abs. 4 von grundlegender Wichtigkeit für einen besseren Schutz der Kinder vor Gewalt.
Hinweise zu Art. 302 Abs. 1 ZGB
Die im Dezember 2022 vom Parlament angenommene Motion Bulliard (19.4632) verlangt die Aufnahme des «Rechts auf gewaltfreie Erziehung» ins ZGB. Der Vorentwurf beschränkt sich aus den im erläuternden Bericht genannten Überlegungen auf ein Gebot zur Erziehung «ohne körperliche Bestrafungen und andere Formen entwürdigender Gewalt». Für Kinderschutz Schweiz bietet der Vorentwurf trotzdem eine notwendige und lange erwartete Stärkung der Prävention. Es wird klar gesagt, dass Eltern in der Erziehung keine körperliche Gewalt und keine entwürdigende Gewalt (worunter die psychische Gewalt fällt), anwenden dürfen. Dieses Gebot einer Erziehung ohne Gewalt kann als Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung gelesen werden. Um der Stellung des Kindes als eigenes Rechtssubjekt gerecht zu werden, ist die explizite Erwähnung des Rechts des Kindes auf eine gewaltfreie Erziehung in der Botschaft zur Gesetzesänderung wünschenswert. Aus dem Recht auf umfassenden Schutz vor Gewalt gemäss Art. 19 UN-KRK leitet sich auch ein Recht auf eine Erziehung ohne Gewalt ab. Der Verweis darauf, verbunden mit dem Hinweis, dass die Ergänzung von Abs. 1 in Art. 302 ZGB dieses Recht abbildet und den in Artikel 11 BV sowie Artikel 3 Absatz 1 und Artikel 19 UN-KRK verankerten Anspruch auf den Schutz der körperlichen und psychischen Integrität von Kindern gewährleistet, würde den kinderrechtlichen Aspekt der neuen Bestimmung abbilden.
Kinderschutz Schweiz begrüsst die Formulierung, die den Fokus auf den entwürdigenden Charakter von Handlungen legt, welche in der Erziehung zu unterlassen seien, weil sie Kinder verletzen. Wichtig ist, dass in der Botschaft (analog zu den Ausführungen im erläuternden Bericht zum Vorentwurf) ausgeführt wird, was unter der Bezeichnung «anderen Formen entwürdigender Gewalt» zu verstehen ist. Sie umfasst alles, was das Kind herabsetzt, und in seiner Würde verletzt – was alle Formen von Gewalt einschliesst. Um die eindeutige Auslegung der Norm sicherzustellen, ist in der Botschaft auszuführen, dass die Formulierung neben der körperlichen Gewalt, die anderen – und gegenüber den körperlichen Bestrafungen teilweise sogar häufigeren – Gewaltformen der psychischen Gewalt, der Vernachlässigung, der sexualisierten Gewalt, sowie das Miterleben von elterlicher Paargewalt umfasst. Die vorgeschlagene Ergänzung bei Art. 302 Abs. 1 ZGB legt das Fundament für Sensibilisierung und Prävention.
Hinweise zu Art. 302 Abs. 4 ZGB
Die Ergänzung des Artikels 302 ZGB durch Abs. 4 wird ausserordentlich begrüsst. Gewalt der Sorgeberechtigen gegenüber ihren Kindern hat ihren Ursprung oft in einer Überforderung, die zu Verunsicherung, Frustration und letztlich verletzendem Verhalten führt. Die bedarfsgerechte Unterstützung der Sorgeberechtigten ist entscheidend zur Prävention vor Gewalt. Die Unterstützung und Förderung der Erziehungskompetenz im Rahmen der gewaltfreien Erziehung trägt zur Stärkung des einvernehmlichen (freiwilligen) Kindesschutzes bei und kann in den Kantonen weiter ausgebaut werden. Mit der Stärkung des einvernehmlichen Kindesschutzes (in Form von Beratungs-, Hilfs- und Unterstützungsangeboten) ist in der Folge eine Entlastung des behördlichen Kindesschutzes erwartbar.
Der mit Abs. 4 eingeschlagene Weg hin zu einer vermehrten Unterstützung der Eltern ist für Kinderschutz Schweiz der richtige. Es geht nicht darum, Eltern zu bestrafen oder gar zu kriminalisieren, vielmehr sollen Sie unterstützt werden – mit einer klaren Leitlinie, die die gewaltfreie Erziehung verlangt sowie mit unterstützenden Angeboten, die ihnen dabei helfen, dieser Vorgabe im Erziehungsalltag nachzukommen. Zwar gibt es bereits kantonale Beratungsangebote für Eltern (z.B. Mütter- und Väterberatung, Erziehungsberatung, aufsuchende Familienarbeit), doch sind solche Angebote teilweise nur punktuell oder nicht überall in gleichem Umfang verfügbar.7 Deshalb kann eine Festschreibung im ZGB ein notwendiges flächendeckendes Grundangebot befördern, zu welchem alle unabhängig von ihrem Wohnort Zugang finden. Kantonale Angebote sollen auch für Kinder niederschwellig zugängig sein, was aktuell längst nicht überall der Fall ist. Insgesamt ist deshalb der neue Abs. 4 eine wichtige Ergänzung des Artikels 302 ZGB.
In der vorliegenden Fassung des neuen Abs. 4 werden lediglich «Beratungsstellen» erwähnt, doch sind für die Gewaltprävention auch weitere Formen der Unterstützung von Sorgeberechtigten (wie z.B. Elternbildung oder Entlastungsangebote) wertvoll. Diese sollen im Gesetzestext im Abs. 4 unter einem allgemeinen Begriff ebenfalls Erwähnung finden.
Abs. 4 Art. 302 ZGB ist wie folgt zu ergänzen:
Kinderschutz Schweiz gibt zu bedenken, dass vorwiegend jüngere Kinder körperliche Gewalt erfahren. So sind rund zwei Drittel der regelmässig geschlagenen Kinder zwischen 0 und 6 Jahre alt.8 Auch die Statistiken der Kinderspitäler zeigen, dass 45% der gemeldeten Fälle Kinder unter 6 Jahren betreffen, wobei gerade bei den kleinsten Kindern die Dunkelziffer für unerkannte Misshandlungen hoch sein dürfte.9 Kinder in diesem Alter können sich nicht selber Hilfe holen und kommen bis zum Kindergarteneintritt selten in Kontakt mit Fachpersonen, deshalb ist insbesondere auch der Ausbau von aufsuchenden Unterstützungsangeboten notwendig. Bei bestehenden aufsuchenden Angeboten gibt es zurzeit noch Angebotslücken und belastete Familien werden nur mangelhaft erreicht.10
1 Schöbi, Brigitte; Holmer, Pauline; Rapicault Angela; Schöbi, Dominik: Bestrafungsverhalten von Eltern in der Schweiz. Eine wissenschaftliche Begleitung der Präventionskampagne «Starke Ideen – Es gibt immer eine Alternative zur Gewalt», Resultatebulletin 2/2022, Universität Freiburg, 2022. (Link)
2 Gershoff, Elisabeth T.; Grogan-Kaylor, Andrew: Spanking and child outcomes, Old controversies and new meta- analyses, In: Journal of Family Psychology, 30(4), S. 453–469, 2016; Plener; Paul; Igantius, Anita; Huber-Lang, Markus; Fegert, Jörg M.: Auswirkungen von Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung im Kindesalter auf die psychische und physische Gesundheit im Erwachsenenalter, In: Nervenheilkunde, Jg. 36, Nr. 3, S. 161 -167, 2017 (Link)
3 Schöbi, Brigitte; Holmer, Pauline; Rapicault Angela; Schöbi, Dominik: Bestrafungsverhalten von Eltern in der Schweiz. Eine wissenschaftliche Begleitung der Präventionskampagne «Starke Ideen – Es gibt immer eine Alternative zur Gewalt», Resultatebulletin 1/2022, Universität Freiburg, 2022. (Link)
4 Schöbi, Dominik; Kurz, Susanne; Schöbi, Brigitte; Kilde, Gisel; Messerli, Nadine; Leuenberger, Brigitte: Bestrafungsverhalten von Eltern in der Schweiz: Physische und psychische Gewalt in Erziehung und Partnerschaft in der Schweiz: Momentanerhebung und Trendanalyse, Universität Freiburg, 2017 (Link)
5 Schöbi et al. 2022, siehe Fussnote 3.
6 Committee on the Rights of the Child 2021 | UN-Committee on the Rights of the Child: Concluding observations on the combined fifth and sixth periodic reports of Switzerland, CRC/C/CHE/CO/5-6, 2021 (Link)
7 vergl. Bundesrat: Familienbericht 2017, Bericht des Bundesrates in Erfüllung der Postulate 12.3144 Meier-Schatz vom 14. März 2012 und 01.3733 Fehr vom 12. Dezember 2001, 2017, S. 40f., 52
8 Schöbi, Brigitte; Holmer, Pauline; Rapicault Angela; Schöbi, Dominik: Bestrafungsverhalten von Eltern in der Schweiz. Eine wissenschaftliche Begleitung der Präventionskampagne «Starke Ideen – Es gibt immer eine Alternative zur Gewalt», Universität Freiburg, 2020, S. 58 (Link)
9 Kinderschutzstatistik 2022, Schweizerische Gesellschaft für Pädiatrie, Fachgruppe Kinderschutz der Schweizerischen Kinderkliniken (Link), S. 4
10 Walker, Philipp; Steinmann, Sarina; Tanner, Anna; Strahm, Svenja; Dini, Sarah; Jung, Rebecca: Dienstleistungen für Familien – Begleit-, Beratungs- und Elternbildungsangebote für Familien; [Bern: BSV]. Beiträge zur sozialen Sicherheit; Forschungsbericht Nr. 1/21, 2021, S. XI; XII) (Link)
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Vernehmlassungsantwort Änderung des Zivilgesetzbuches (Gewaltfreie Erziehung) Kinderschutz SchweizPDF 0.2 MB