Mehrere von Kinderschutz Schweiz beauftragte Studien hatten zum Ziel, verlässliche Zahlen zur Häufigkeit von Gewalt in Familien in der Schweiz zu ermitteln. Die Studie zum Bestrafungsverhalten von Eltern in der Schweiz 2020 baut auf den Studien aus den Jahren 1990, 2004 und 2017 auf.
Eine der wichtigsten Erkenntnisse der aktuellen Studie ist, dass Gewaltanwendung in Familien durch die Eltern in erster Linie nicht im Rahmen einer überlegten, absichtsvollen Erziehungshandlung geschieht. Vielmehr lassen sich Eltern in schwierigen, stressigen Erziehungssituationen zu gewaltsamen Handlungen hinreissen. Meistens wollen die Eltern ihren Kindern also nicht von vornherein Gewalt antun. Geschieht es trotzdem, fühlen sich Eltern deswegen schlecht und bereuen ihre Tat.
Befragung von Eltern aus allen Schweizer Sprachregionen
Der Studie lag eine geschichtete und repräsentative Stichprobe von Eltern aus allen Sprachregionen der Schweiz zu ihrem Erziehungsverhalten zugrunde. Die folgende Zusammenfassung fokussiert auf zwei zentrale Bereiche von Gewalt in der Erziehung: die körperlichen und die psychischen Formen.
Körperliche und psychische Gewalt gehören in vielen Familien auch 2020 noch zum Alltag.
Durchschnittlich gibt es etwa in jeder Schulklasse ein Kind, das regelmässig körperlich bestraft wird.
In der aktuellen Studie gaben 4,4 Prozent der Elternteile an, regelmässig körperliche Gewalt anzuwenden (2017 waren dies noch 5,79 Prozent). Dabei sind die jüngeren Kinder nach wie vor öfter als die älteren von Körperstrafen betroffen. Zwar ist dieser Wert damit gesunken, doch manifestiert sich eine stabile Subgruppe von Eltern, bei denen körperliche Gewalt in der Erziehung «dazugehört».
Jedes vierte Kind erfährt regelmässig psychische Gewalt
Der Prozentsatz von Eltern, die ihre Kinder regelmässig psychisch strafen, betrug laut der neusten Studie 23,2 %. 2017 waren es noch 25,15 %. Diese Abnahme ist gering und zeigt, wie stabil diese Form von Gewalt in Familien verankert ist. Psychische Strafen sind beispielsweise Drohungen oder Liebesentzug.
Am häufigsten kamen «Beschimpfungen / mit Worten weh tun» vor: Zirka 37 % der Eltern gaben an, ihr Kind auf diese Weise zu bestrafen. Mit Schlägen drohten rund 27 % der Eltern. Knapp 22 % der Befragten bestraften ihr Kind mit Liebesentzug: Sie sagten oder zeigten ihm, dass sie es nicht mehr gern haben. 19 % der Eltern drohten ihrem Kind, es alleine zu lassen, und 15 % sperrten es für längere Zeit in ein Zimmer ein. Am wenigsten häufig (zirka 11 %) kam die Drohung vor, das Kind wegzugeben, wenn es sich nicht bessere.
Nur für eine Minderheit der Eltern gehören körperliche Formen von Gewalt zur alltäglichen Erziehungspraxis.
Obwohl ein recht grosser Teil der befragten Eltern die Anwendung von Körperstrafen einräumte, ist der Anteil der Eltern, die mit einer gewissen Regelmässigkeit Gewalt anwenden, offenbar recht klein. Dies geht aus der Studie aus dem Jahr 2017 hervor.
Erziehungsziele haben einen Einfluss auf das Erziehungsverhalten.
Eltern setzen bei Erziehungszielen eher darauf, dass ihre Kinder Entfaltungsmöglichkeiten haben, und auf Authentizität. Zwischen den Regionen zeigen sich insofern Unterschiede, als dass die Eltern in der Deutschschweiz weniger auf die Verhaltenskontrolle ihrer Kinder und auf deren Angepasstheit aus sind als die Eltern in der Romandie und im Tessin.
Die Analysen deuten darauf hin, dass die Erziehungsziele relevant sind in Bezug auf die Anwendung körperlicher Gewalt. Regelmässig bestrafende Eltern beurteilen Erziehungsziele wie Anpassungsfähigkeit, Ordentlichkeit und Fleiss als bedeutend wichtiger als die anderen Eltern.
Gewalt von Eltern gegenüber Kindern kommt oft im Kontext von schwierigen und schliesslich eskalierenden Erziehungssituationen vor.
Der deutlich am häufigsten genannte Anlass für körperliche Gewaltanwendung war, dass das Kind den Vater oder die Mutter geärgert, genervt oder provoziert hätte.
Damit begründete fast die Hälfte der Befragten in der Studie von 2017 die jüngste körperliche Gewaltausübung. Dies ist ein Hinweis darauf, dass körperliche Gewalt oft im Rahmen einer Situation erfolgte, die auf die eine oder andere Weise aus dem Ruder gelaufen war. Weiter lassen diese Antworten aber auch den Schluss zu, dass viele Eltern die Verantwortung für die Eskalation den Kindern zuschreiben. Rund ein Viertel der Befragten suchen die Verantwortung eher bei sich und gaben als Grund für den Übergriff an, dass sie selbst müde, gereizt oder mit den Nerven am Ende gewesen seien.
Viele Eltern bereuen die Anwendung von körperlicher Gewalt – eine kleinere Gruppe von Eltern zeigt allerdings eine gewalttolerierende Haltung, die dann häufiger in Gewalt mündet.
Wenn Eltern nach ihren Erlebnissen und eigenen Reaktionen auf die Anwendung physischer Gewalt befragt werden, dann berichten viele von Selbstvorwürfen, von einem schlechten Gewissen und von Entschuldigungsversuchen beim Kind. Ein grosser Teil der Eltern bedauert den Übergriff und fühlt sich deswegen schlecht.
Eine kleinere Gruppe von Eltern vertritt allerdings eine gewalttolerierende und damit auch eine gewaltfördernde Haltung. Diese geht unabhängig vom elterlichen Belastungsgrad und von eskalierenden Erziehungssituationen mit einer häufigeren Anwendung von Körperstrafen einher.
Die subjektive Sicht der Eltern: Wo beginnt Gewalt? Was ist Gewalt und was nicht?
Jede vierte Mutter und jeder dritte Vater sieht in Handlungen wie einem kräftigen Klaps auf den Hintern keine Gewalt.
Obwohl eine Mehrheit der Befragten verschiedene Formen körperlicher Übergriffe mehr oder weniger deutlich als Gewalt beurteilt, herrscht bei einigen Eltern dennoch Unklarheit. So sah in der Studie von 2017 beispielsweise eine beachtliche Gruppe von Frauen (rund 25 %) und vor allem von Männern (über 40 %) einen kräftigen Schlag auf den Po bei einem vierjährigen Kind nicht als Gewalthandlung.
Jeder vierte Vater beurteilt psychische Übergriffe nicht als Gewalt.
Psychische Formen von Gewalt werden etwas deutlicher als solche erkannt. Rund neun von zehn Müttern beurteilten bei der Befragung 2017 die meisten Formen psychischer Gewalt auch als solche. Der Anteil der Männer, die psychische Gewalt auch als solche erkennen, ist tiefer. Jeder vierte Vater beurteilt verschiedene Formen psychischer Gewalt nicht oder eher nicht als Übergriff. Vor allem passive Formen psychischer Gewalt, wie zum Beispiel die längere Gesprächsverweigerung bzw. das Ignorieren eines Kindes über eine lange Zeitspanne, wird häufiger nicht als Gewalt betrachtet.