Fallbeispiel «Non-Punishment Rule und Jugendkriminalität, freiwillige Arbeit oder Zwang zu Kleinkriminalität»
Die 16-jährige Lena reist im Sommer aus ihrem Heimatdorf in Bulgarien in die Schweiz ein. Mit dabei sind zwei andere Jugendliche: ein Mädchen aus ihrer Nachbarschaft und deren Cousin, der schon mehrmals in der Schweiz und in Österreich war. Sie sind mit einem Bekannten ihrer Eltern im Auto unterwegs. Beim Grenzübertritt können alle einen EU-Pass vorweisen und ohne Probleme in die Schweiz einreisen.
Lenas Eltern haben ihr vorgeschlagen, den Sommer in der Schweiz zu verbringen. Sie könne bei Bekannten wohnen. Zudem sei es in der Schweiz einfach, ein wenig Geld zu verdienen. Lena hat soeben die Schule abgeschlossen und möchte Pflegefachfrau werden. Geld für die Ausbildung oder einen Ausbildungsplatz hat sie nicht.
Die drei Jugendlichen werden in einer Wohnung mit anderen Personen aus Bulgarien untergebracht, die sie nicht kennen. Bald darauf wird ihnen mitgeteilt, sie müssten Geld verdienen und so ihre Familien in der Heimat unterstützen. Die beiden Mädchen werden an einen Bahnhof in der Stadt verbracht und angehalten, bei Passanten um Geld zu betteln. Das erwirtschaftete Geld geben sie abends ihrem Bekannten ab. An guten Tagen können sie zehn Franken behalten, wenn der Tag in der Stadt nicht erfolgreich war, nur fünf Franken. Mindestens 50 Franken müssen sie täglich verdienen. Man sagt ihnen, das Geld sei für ihre Familien in Bulgarien. Der Junge, der mit ihnen gereist ist, erhält eine Liste mit Artikeln, die er in den Warenhäusern stehlen soll. Er erzählt seiner Cousine und Lena, dass er das während dieser Auslandaufenthalte schon oft gemacht habe. Einige Sachen behalte er für sich und verkaufe sie in Bulgarien.
Nach einigen Wochen wird Lena bei ihrer «Arbeit» von einer Polizistin angehalten und auf den Polizeiposten gebracht. Sie zeigt der Polizistin die Telefonnummer des Bekannten. Dieser erscheint bald darauf und sagt, er sei ihr Onkel, und sie verbringe die Sommerferien bei ihm. Man habe doch immer Probleme mit diesen Jugendlichen. Er werde jetzt besser auf sie aufpassen. Die Polizistin ist ein wenig misstrauisch. Da sie die 16-Jährige jedoch nicht gegen ihren Willen festhalten kann und sie das Mädchen auch nicht bei einer Straftat erwischt hat, lässt sie die beiden ziehen. Nach drei Monaten in der Schweiz können die Mädchen mit ihrem Bekannten zurück nach Bulgarien fahren.
Dieses Beispiel zeigt: Auch in der Schweiz werden Kinder zu organisierter Bettelei oder Kleinkriminalität wie Ladendiebstahl, Taschendiebstahl oder Drogenhandel gezwungen. In vielen Fällen müssen sie täglich eine bestimme Geldsumme oder bestimmte Waren erbeuten. Diese Kinder halten sich meist in Begleitung von Erwachsenen in der Schweiz auf. Die Begleitpersonen geben sich als Erziehungsberechtigte aus. Es kommt vor, dass die Minderjährigen keinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz haben und zum Zweck der Kleinkriminalität für einige Tage in die Schweiz geschickt werden.
Inhaltsverzeichnis
Zur Übersicht- Zielgruppen Online-Handbuch
- Begriffserklärung
- Rechtliche Grundlagen
- Fokus Kinderrechte
- Grundsätze zur Bekämpfung
- Kinderhandel erkennen
- Verdachtsfall
- Fallbeispiele
- Opfer Asylbereich
- Opferschutz und Betreuung
- Dauerhafte Lösungen
- Empfehlungen
- Dank an die Partnerorganisationen
- Wichtige Kontaktstellen
- Literatur- und Linkliste